Es war an einem Herbsttag, die Sonne war noch warm, die Blätter die Bäume begannen sich bunt zu verfärben und es lag ein Hauch von Abschied in der Luft, wie immer im Herbst. Die winterliche Ruhe wurde angekündigt und es war, als würde die Natur langsam den Fuss vom Gaspedal nehmen, alles wurde langsamer, behäbiger, stiller.
Das Handy klingelte und eine leise, männliche Stimme meldete sich.
Er sei Gerald* und er hätte zufällig auf meinem Facebookprofil gesehen, dass ich ein PANArt Gubal Instrument besitze. Ob es denn irgendwie möglich wäre, dieses Instrument mal zu probieren bzw. mal live zu hören. Gerald sagte, er wisse schon, dass das alles jetzt sehr komisch klinge, aber er fühlte sich von diesem Instrument irgendwie angezogen und hat auf der Facebookseite gesehen, dass ich mit einer Arbeitskollegin von ihm befreundet bin und hat diese dann gefragt, ob sie ihm meine Handynummer geben könnte.
Ich stimmte ohne weiteres Bedenken zu und so haben wir kurzerhand einen Treffen vereinbart.
Gerald kam pünktlich und von weit her, 55 Kilometer. Wir trafen uns unweit vom Bildungszentrum Narrativ, wo ich damals Mitglied war und wo ich einen Raum zur Verfügung hatte, wo wir ungestört sein konnten. Also sind wir ohne weitere Umschweifen dorthin. Ich hatte das Glück, mehrere von diesen Instrumenten zu besitzen und habe mir instiktiv gedacht „Ich nehm mal zwei mit, sonst ist einer nur Zuhörer…“
Dort angekommen, haben wir uns einen Raum ausgesucht, hingesetzt, gar nicht soviel geredet. Gerald erzählte, dass er Musik immer schon geliebt hatte. Er erzählte aus seiner Kindheit, als im TV noch die „Hitparade“ lief, mit Dieter Thomas Heck, manche von uns werden sich noch daran erinnern. Er sei immer im Wohnzimmer gesessen, auf dem Boden und war ganz fasziniert von der Musik. Er hat dann zu den Liedern auch immer mitgesungen, von Herzen gern. Aber sein Vater hat ihn angefahren „Sei doch endlich still, man hört ja nichts, du singst ja total schief!“
Und Gerald hat irgendwann aufgehört zu singen. Er hat sich geschämt, es war seinem Vater nicht gut genug. Er war seinem Vater nicht gut genug. Und so wurde Gerald stumm. Er wurde ganz klein und leise und das ist sein ganzes darauffolgendes Leben so geblieben. Er war in der Schule nie der, der die Hand hob, obwohl er die Antwort wusste. Er war der, der in der Freundesclique immer etwas abseits stand. Er war der, der sich nie traute, das Mädchen anzusprechen, in das er verliebt war. Er hat aufgehört zu singen und er hat sich von der Musik abgewendet, weil es ihn zu sehr schmerzte, nicht mitsingen zu können.
Ich habe die zwei Instrumente ausgepackt und habe eines davon einfach Gerald auf den Schoß gesetzt, der mir gegenüber Platz genommen hatte.
Gerald war zuerst ganz überrascht, fast sogar überrannt, traute sich nicht, das Instrument zu berühren und hielt es etwas mühsam auf seinen Schenkeln im Gleichgewicht.
Er schaut mich nur sehr zaghaft und unsicher an und meinte dann:
„Ja… und jetzt???“
„Jetzt machen wir Musik.“ antwortete ich.
Ich sagte nichts weiter. Ich sass einfach nur da und schaute ihn an, aber ohne Druck zu machen, ohne Erwartungshaltung, etwa so, wie wenn man jemanden aufmerksam zuhört. Er sagte auch kein Wort, begann aber nach einer Weile, das Instrument mit seinen Händen zu erforschen. Vorsichtig drüberstreichelnd erkundete er das Instrument, beim Darüberstreichen rauschende Geräusche erzeugend, wie der Wind. Dann begann er, mit seinen Fingern langsam darauf zu klopfen, Tonfelder zu finden und zu erforschen. Die ersten leisen Noten erklangen. Ich nahm seinen Puls auf, unterstützte und verstärkte diesen mit den Bassklängen des Instruments. Er wurde sicherer, fühlte sich getragen von den tiefen Klängen und von seinem Puls. Gerald wurde langsam sicherer, selbstbewusster, liess sich ganz auf den Fluss der Musik ein und die Musik auf ihn.
Wir haben 1,5 Stunden Musik gemacht. Es war nichts da, was veranlasst hätte, aufzuhören. Es floss, es plätscherte, wurde mal lauter und deutlicher, dann wieder leise und zart. Ein wunderschöner Dialog zwischen uns, jeder hörte zu, jeder hatte etwas zu sagen. Ein dritter Raum hatte sich aufgetan, in dem wir uns austauschen konnten, wo wir miteinander sprechen konnten.
Dann, ohne dass wir uns irgendwelche Zeichen gegeben hätten, ohne Blickkontakt, hörten wir beide mit exakt dem gleichen Schlag auf. Synchron, gleichzeitig. Es war nichts mehr zu sagen, alles wurde ausgesprochen. Stille trat ein. Nicht die peinliche, unangenehme Stille, nein, eine respektvolle, achtsame Stille, ein Nachhorchen und ein Nachfühlen.
Ich hob meinen Blick langsam und sah Gerald an. Er sass aufrecht da, Tränen liefen über seine Wangen. Ich sass einfach nur da, ließ ihn spüren, dass Zeit da war. Genug Zeit. Soviel, wie er brauchte. Dann irgendwann, sah er mir mit tränennassen Augen in meine Augen und sagte leise, fast unvernehmbar.
„Danke. Danke, dass du mir die Musik wiedergegeben hast.“
(*Name geändert)
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